Der Spaziergang

Spät in der Nacht von 1. zum 2. Dezember machen sich Norge und Zoé auf in die belebten Straßenzüge von Moskuwa Downtown. Die Nachtzeit ist die Zeit für Arbeit und Vergnügen. Diese Formel bewährt sich auch in der schwierigen, krisengeplagten Zeit. Mit größtmöglicher Ignoranz geht das Leben hier weiter, auch wenn viele dezente Details daran erinnern, dass die Zukunft von Dahomey gerade in der Schwebe ist.

Die großen, glasüberdachten Einkaufsstraßen der Fußgängerzonen summen vom Lärm vieler Sprachen und tieffliegenden Dronen – einige davon deutlich aus dem Horst von Mercenary Inc. Auf den bunten Werbetafeln mischen sich häufig ernste Bilder aus der Tawani-Region, dem überschwemmten Mbandé-Sprawl und der unter Kriegsrecht gestellten Hauptstadt Lome. Auch die Seeblockade ist Thema. Die Flotte von AIM koordiniert Zugang und Abgang des lebenswichtigen Warenstroms aus der ganzen Welt. Ironischerweise sind es nicht die Schiffe, die von der Allianz der Afrikanischen Union aufgehalten werden, die Probleme machen, sondern die plötzliche Explosion von Schmuggelware und undurchschaubaren Stellvertreterverträgen, die der Korruption Tür und Tor geöffnet haben. Dazu zählt auch der räuberische Export von Dahomeys Reichtümern, der sich an der Krisenlage bereichert. Kurz können Zoé und Norge die Silouette der AIMS Cassiopeia in einem Filmausschnitt sehen.

Die beiden lassen sich in einem Ruhebereich inmitten einer der großen Malls nieder und starren eine Weile auf den Nachrichtentrideo bis sie Teil der Kulisse geworden zu sein scheinen. Zoés wachsame Ohren und Augen registrieren die Drohnenflüge, die bewaffneten Patroullien und neugierigen Augen vorbeiziehender Fremder. Von den toten Winkeln der Kameras gar nicht zu sprechen. Immer wieder öffnen sich großzügige Zeitfenster für öffentliche Privatheit. Zoé gibt Norge grünes Licht und er nimmt die Radio Sorceress aus seiner Tasche.

Der porzellangleiche Kopf schaut sich ungelenk um und die lilafarbenen Augen erfassen neugierig die Umgebung. Wie auch die echte Miru, blinzelt die Puppe nicht. Als hätte die Puppe gemerkt, dass sich Aufmerksamkeit auf sie richtet, spricht sie mit bewegtem Mund in kindlicher Tonlage:

„Norge! Du musst aufpassen. Der Äther ist voll von bösen Drachen und schädlicher Software.“

Die Radio Sorceress schaut zu Zoé.

„Ich kann euch nicht dienen, wenn ich mich nicht mit euren digitalen Gefährten verbinden kann. Fügt mich als Avatar zu euren AR- und VR-Brillen hinzu, macht mich mit euren Smartphones und Data Pads bekannt. Ich kann auch eure Heimterminals beschützen.“

Die Puppe legt den Kopf schief und Zoé schaut kurz zu Norge, der die Schultern etwas ratslos hebt und nickt. Dafür sind sie ja hier: um die Sache auszuprobieren. Zoé nimmt ein neu erworbenes Mobiltelefon aus dem kleinen Rucksack hervor und befreit es aus seiner Verpackung. Die kleine Miru-Puppe streckt behende beide Arme nach dem Gerät aus. Zoé reicht ihr das Telefon mit dem Hinweis, dass dies das neue Gerät von Norge ist.

Kaum hat die Puppe das Smartphone in der Hand, leuchtet das Display auf. Die Radio Sorceress legt eine kleine Hand auf den Induktionsbereich des Bildschirms und plötzlich explodiert ein Zauber aus Farben und Formen auf dem Mobilgerät. Ein Abbild der Radio Soreress erscheint nun jenseits des Bildschirms und blickt die Schwester-Puppe spiegelgleich an. Dann beginnt die Radio Sorceress im Telefon ordentlich aufzuräumen. Ein wahrer Kampf entbrennt. Programme werden umgebogen, Dinge vernichtet, neues erschaffen. Mit blechernen Kampfeffekten und Feuerwerk bleibt von der ursprünglichen Benutzeroberfläche des Billigprodukts nicht mehr viel übrig. Die Radio Sorceress hat sich häuslich eingerichtet, in einer japanischen Festung aus digitalem Zauber. Wallanlagen, Tore,, Bogenschützen und feurrote Drachen in der Luft sichern die Burg – Norges digitale Privatsphäre.

Norge und Zoé starren nur von außen auf den Bildschirm aber man kann ermessen, wie intensiv sich dieser digitale Burgenbau anfühlen musste, wenn man sich mit einem Datajack direkt in das Gerät einklinken würde. Wahrscheinlich könnte Norge in der virtuellen Welt wirklich dort wohnen und Gäste empfangen. Die Radio Sorceress verkündet stolz:

„Fertig! Aus dieser primitiven, öffentlichen Telefonzelle ist eine Burg geworden! Nur Du kannst eintreten, Norge. Sprich einfach mit mir, wenn Du etwas umgestalten oder mit anderen teilen willst!“

Die Radio Sorceress rammt ihren Stecken in den Boden und das Smartphone nimmt nun seine eigentliche Funktion wahr. Eine Verbindung zum Mobilfunknetz wird hergestellt. Die Radio Sorceress prüft die Integrität kritisch und gibt Kernfunktionen eingeschränkt frei. Norge erscheint im Telefon als gerüsteter Samurai. Alle Diener und Wachen organisieren sich um ihn.

„Norge, Matrixverbindung ist hergestellt, aber die Netzqualität ist sehr schlecht. Hier kannst Du nicht voll in den See aus Informationen eintauchen. Simsense und Trideo sind nicht möglich. Du hast nur einfachen Terminalzugang zum digitalen Universum. Aber es reicht für das Nötigste! Du kannst recherchieren, telefonieren und Daten versenden, aber ein staatlicher Anbieter kontrolliert derzeit die Dateninhalte. Pass auf, was Du sagst! Ich habe jedenfalls Deinen Standort gut verborgen, denn ich bin nicht die einzige Radio Sorceress hier in der Region. Gemeinsam sind wir stärker! Wenn Du mich mit Kontakten verbindest, die auch von einer meiner Schwestern beschützt werden, kann ich alle Datenübertragungen felsenfest verschlüsseln!“

Sie reckt den Stecken empor, der mit einem Blitzschlag zum Schwert wird. Damit scheint das Mobiltelefon eingerichtet. Norge benutzt das Gerät, zuerst etwas planlos, was er damit nun also anfangen soll. Recht schnell wird klar, dass sich alle Funktionen in der japanischen Festung verbergen und die Radio Sorceress als digitaler Avatar immer in der Nähe ist. Norge kann ziemlich direkt mit dem kleinen Helferlein sprechen. Die eigentliche Puppe scheint ein notwendiges Accessoire zu sein. Die Funktionen der Radio Sorceress sind scheinbar an die Nähe der Puppe gebunden. Zoé entschließt sich daraufhin, die kleine Miru vorerst im Rucksack den neugierigen Blicken zu entziehen. Norge kommt dann unkompliziert zum Kern der Sache:

„Em, kannst Du Verbindung mit Miru aufnehmen, wir brauchen ihre Hilfe?“

Die Radio Sorceress legt den Kopf schief und hält eine Hand offen in Norges Richtung, als wolle der Avatar ihn in das Telefon ziehen.

„Ich bin hier! Die Radio Sorceress hilft dir immer und überall!“

„Nein, em… Radio Sorceress. Ich meine die echte Miru. Die Miru, die auch Asiru und Kiru ist… oder war…“

Der Avatar bekommt riesige Augen voll ehrfürchrtigem Erstaunen:

„Oooooooh! Miru-Sensei! Ooohhh!“

Sie legt eine Faust in ihre andere Hand und neigt den Kopf.

„Miru-Sensei ist immer und überall mit mir und allen unseren anderen Schwestern. Wie kann ich Dir helfen, Norge?“

Zoé schaltet sich ein, als Norge etwas zögert. Wie genau sollte man das Anliegen nun berichten? Die Puppe kennt ja Lena nicht. Und selbst wenn Miru-Sensei selbst hier und jetzt neben ihnen auf der Bank sitzen würde, wie würde sie verstehen können? Zoé geht die Sache etwas vorsichtig an:

„Wir haben eine Freundin, Lena. Hmmm…. Lena Mason. Sie wurde entführt, Miru.“

Die Augen der Radio Sorceress blitzen zornig auf. Mit einer unwirschen Geste zieht sie drei mögliche Kontakte herbei, mit der man unmittelbar Hilfe erlangen könnte: Kriminaldirektion Ordnungsbüro Moskuwa, Mercenary Inc. Bereitschaftsdienst Downtown, PanicButton Online Operator. Zoé winkt eilig ab:

„Nein, nicht so. Es ist eine Weile her und wir brauchen Hinweise, wer sie entführt hat. Kannst Du uns Bildmaterial besorgen, oder den Ort rausfinden, wo Lena zuletzt gesehen wurde… oder wo sie jetzt ist?“

Die Radio Sorceress stellt den Zauberstab auf und nimmt eine neutrale, nachdenkliche Miene an. Hinter ihr versammeln sich einige Lakaien und Samurai. Sie sieht dann zu Norge und fragt, ob Zoés Angelegenheit auch seine sei. Er nickt. Nach einem Moment antwortet sie dann auf Zoés Anfrage:

„Freundin Zoé-san, ich kann Lena nicht finden, aber was passiert ist ist schrecklich. Ich benötige mehr Informationen. Nimm mich mit, damit ich mehr über sie und euch lernen kann. Wenn ich genug Informationen habe, dann werde ich mich melden, versprochen. Solange passe ich still auf und lerne.“

Die Radio Sorceress verneigt sich. Mehr war im Moment nicht zu erwarten. Norge beobachtet die umliegenden Trideoschirme und Werbetafeln, aber es erscheint kein Anzeichen, dass Miru sich manifestiert. Zoé schlägt vor, dass man vielleicht die Puppe mit an den kommenden Einsatzbesprechungen teilhaben lässt. Wenn es stimmt was sie sagt, müsste sie ja mehr und mehr über Lena lernen und vielleicht kommt sie dann irgendwann zu einem hilfreichen Ergebnis?