Luftholen

Andikan vs. Afkarasar

Im Morgengrauen des 3. Dezember war die schwarze Rauchsäule aus der Unterstadt von Moskuwa Downtown bereits zu leichtem Smog zerblasen. Die SFG 77 hatte sich ins HQ zurückgezogen, teilweise deutlich verletzt und erschöpft, nachdem Beweismittel so gut wie möglich gesichert worden waren. Nur Negative war am Ort des Grauens zurückgeblieben, hatte sich der Gruppe angeschlossen, die all die Gefangenen und Leichen aus dem Wasserreservoir geborgen hatte. Unter der Gruppe der herbeigeeilten Demonstranten und Aktivisten waren auch Sistren und Aidren sowie Clark gewesen.

Die Inkarnation der Andikan war nicht leicht zu entschlüsseln, doch als Journalisten und letztlich auch die Ordnungsbehörde eintraf, dauerte es nicht lange, bis die unerhörten Vorgänge der Nacht die Nachrichten dominierten. Negative und Clark waren zu dem Zeitpunkt bereits wieder untergetaucht, konnten sie es doch nicht riskieren der Ordnungsbehörde Rede und Antwort stehen zu müssen.

Negative sollte jedoch an den Ort zurückkehren. Bereits am nächsten Sonnenuntergang war er erneut dort. Das ganze Gelände war abgesperrt, weiße Zelte aufgebaut, doch zahlreiche Demonstranten lagerten davor. Manche kamen und hofften auf Informationen zu den geborgenen Leichen oder geretteten Personen. Fast alle kamen um das übergroße Gesicht der Idola Andikan zu sehen. Es war eine Mischung aus urbanem Material, Schrott und übernatürlichem Lichterglanz. Am Tag hatte das gütige und regungslose Gesicht an Substanz verloren und war durchscheinender geworden. Wie Negative wusste, würde es nicht ewig verweilen. Doch für den Augenblick war Andikan für alle sichtbar und niemand hatte es gewagt, einen Sichtschutz vor die gut vier Meter hohe Erscheinung zu stellen. Es war letztlich ein Denkmal für die Abwendung einer schrecklichen Katastrophe, deren mutmaßliches Ausmaß in den Medien stündlich nach oben revidiert wurde.

Andikans Präsenz am Ort nahm dem Grauen im Wasserreservoir seinen Schrecken. Statt Furch und Verzweiflung sah man Ruhe und Entschlossenheit auf den Gesichtern der Ordnungshüter und Helfer. Auch die Personen, die zuerst mit der SFG 77 die Gefangenen und Leichen geborgen hatten, zeigten in der psychologischen Betreuung keine Anzeichen von Schock oder Traumata. Niemand der Überlebenden starb auf dem Vorplatz.

Negative war dazu verdammt, am Rand des Geländes zu stehen. Aber das machte keinen großen Unterschied. Im Gespräch mit neuen und alten Bekannten konnte er sicher stellen, dass die Botschaft richtig ankam. Und so wurde bereits am 4. Dezember in den Medien davon berichtet, dass in Downtown Low eine weiße Manifestation der Idola Andikan gesichtet worden war. Afkarasar hatte verloren.

Die Dandys

Nicht nur dem Lieutenant war es ein Anliegen gewesen, die schändliche Kollaboration der sogenannten „Dandys“ ans Licht zu bringen. Fink, Clar, Mike Goodfellow, Negative und auch viele der Überlebenden aus dem Wasserreservoir sorgten dafür, dass die Gesichter der Dandys als Agooji gebrandmarkt wurden. Die SFG 77 wusste, dass die Dinge nicht so einfach lagen, aber der Sache war es allemal zuträglich.

Jeder Versuch, sich auf die Fersen der Gruppe zu setzen, scheiterte schon im Ansatz. Es brauchte kaum zwei Tage, dann war klar, dass die Überlebenden untergetaucht waren. Zu Persona Non Grata in der Unterwelt verkommen und in allen Medien präsent, konnten sie auf wenig mehr hoffen, als ihre verbliebenen Kontakte zu nutzen um sich abzusetzen. Die Dandys hatten das Kräftemessen mit der SFG 77, das in Evan Chois Appartment begonnen hatte, letztlich verloren. Die letzten Informationen zu den Dandys kam von Sistren und Aidren. Angeblich hatten sich die Dandys schnell und professionell über Nigeria aus dem westafrikanischen Raum abgesetzt. Das Kopfgeld kam zu spät. Vielleicht war es eine falsche Fährte. Aber vielleicht sagte es auch etwas über die Einschätzung der Gesamtlage aus, zu der diese Profis aus der Unterwelt letztlich gekommen waren. Es wäre für die SFG 77 sicherlich von Vorteil, wenn diese gefährlichen Spielfiguren damit vom Spielfeld genommen worden waren. Lenas Schicksal war damit jedoch auch weiter verfinstert worden.

Krankenhausreif

Nach dem Ende der Operation Steinmetz hatte Captain Uzun noch am Mittag des 3. Dezember einen deutlichen Befehl an Lieutenant Morèlle gerichtet: Alle Operationen in Moskuwa seien einzustellen. Régicide und Negative sollten sich gemäß der Einschätzung von Norge einem Krankenhausaufenthalt unterziehen. Hierzu wurde nun die Erlaubnis erteilt, die offiziellen SIN als Angestellte von AIM einzusetzen. Es hatte sich scheinbar etwas getan, hinter den Kulissen. Captain Uzun war überrasch, dass sich Régicide mehr oder weniger bereits selbst eingewiesen hatte.

Das Kommando vor Ort habe Norge zu übernehmen, bis die exakten Anweisungen für eine Operation Good Neighbour ausgegeben würden. Faktisch sah das dann so aus, dass Negative und Régicide diskret in das Krankenhaus in Moskuwa Downtown eingeliefert wurden. Régicide sollte vier Tage Zwangspause verordnet bekommen, in dieser Zeit konnte sich sein Körper halbwegs erholen und auch seine diagnostizierte Erkrankung konnte spezifiziert und behandelt werden. Negative gestattete man regelmäßige Ausflüge, in denen er sich wieder den Vorgängen am Wasserreservoir widmete. Beide wurden auch intensiv durch schamanistische Heiler überwacht und in der Erholung begleitet. Das hielt Régicide aber nicht davon ab sein Augenmerk ab und an auf die erbeutete Orichalkum-Opal-Wurzel zu werfen und einige interessante Einsichten zu gewinnen. Doch davon an anderer Stelle mehr.

Währenddessen bekamen Norge, Zoé, Copper und Clark neue Befehle. Offiziell waren Negative und Régicide außer Dienst gestellt und Finnja Skorgen merkte zynisch an, dass es wahrscheinlich kein Zufall sei, dass man ausgerechnet die beiden arkan erwachten Teammitglieder schachmatt gesetzt hatte, während die Operation Good Neighbour ihre Fahrt aufnahm. Sie vermutete, dass die extremen arkanen Vorfälle und die Einbindung der eigenen Arkanen das Motiv sein könnte. Wäre Norge nicht so groß und undulsam gewesen, hätte sich Finnja Skorgen wahrscheinlich über die ironie lustig gemacht, dass nun Norge das Kommando hatte. Doch sie sparte sich diese Bemerkungen.

Neue Lage, neue Befehle

Am 4. Dezember 2073 lag die SFG 77 ruhend im HQ, nur Negative und Régicide waren noch im Krankenhaus, wo auch Finnja Skorgen oft verweilte um die beiden über Neuigkeiten zu unterrichten und Wache zu halten (sie traute der Security natürlich nicht). Dann bekam Norge über das Terminal die Information von Uzun, dass es eine Grundsatzentscheidung über den weiteren Fortgang in Dahomey gegeben habe. Operation Good Neighbour und die Aktivierung der Task Force Landfall waren bewilligt worden.

Operation Good Neighbour sollte im wesentlichen daraus bestehen, das unkontrollierte Territorium zwischen Großer Zusammenkunft, Nigeria, Mbandé-Sprawl und Tawani-See unter die Lufthoheit und Gebietskontrolle von AIM zu bringen um die weitere Politik durchzusetzen. Die Operation begann sofort – unverzüglich.

Das HQ in Moskuwa sollte in zwei Schritten geräumt werden. Am 5. Dezember wurden Norge, Zoé, Copper und Clark nach Nakatombe gesendet. Dort war der Brückenkopf für die Task Force Landfall einzurichten. Drei Tage später, am 8. Dezember, würden Régicide und Negative mit Finnja Skorgen nachrücken und die SFG 77 wieder den regulären Dienst antreten, mit Régicide im Kommando.

Bis zum 8. Dezember hatte der vorauseilende Teil der SFG 77 klar umrissene Befehle. Etwas, das mancher schon gar nicht mehr gewohnt war:

  • Norge war verantwortlich für die Koordination der Einrichtung des Bückenkopfes für die Luftbrücke aus dem Golf von Guinea in Nakatombe. Anschließend sollte er die Einrichtung eines größeren Lazaretts unterstützen.
  • Zoé fiel die Aufgabe zu, Nakatombe für Landemanöver der Luftbrücke vorzubereiten. Das bedeutete im Wesentlichen die Einrichtung einer Landebahn von mindestens 1500 Meter für Starrflügler, eine Koordination der An- und Abflugwege, Betriebssicherheit und Logistik. Sobald die Luftbrücke stand, konnte Zoé diese Dinge übergeben.
  • Coppers prioritäre Aufgabe bestand darin alle Beweise und Zeugen in den ersten gesicherten Transportflug zu packen, den AIM in Nakatombe auf den Boden brachte. Außerdem sollte Copper die Kooperation mit den Menschen vor Ort sicherstellen und Clark unterstützen.
  • Miss Pria Lakshmi Clark hatte die Aufgabe in Nakatombe nach verlässlichen Partnern zu suchen, Kooperation sicherzustellen und Unterhandel aufzunehmen. Diese Aktionen sollten sobald möglich auf die Große Zusammenkunft ausgedehnt werden, ganz so, wie es die SFG 77 ursprünglich geraten hatte.

Diese Dinge wurden bereits am 4. Dezember mit der Abreise eines Teils des Teams nach Nakatombe begonnen. In den vier folgenden Tagen, bis Régicide und Negative nacheilen konnten, geschah sehr viel. In Nakatombe wurde eine Landepiste eingerichtet und bereits am 6. Dezember landeten die ersten Tarnkappentransporter von AIM. An Bord ein kleines Kontingent Marineinfanterie, Militärpolizei und einige besondere Gäste. Captain Uzun, Specialist Kara Lance und Chief Mike Goodfellow betraten das erste Mal in diesem Konflikt afrikanischen Boden. Der Lieutenant hatte endlich seinen Matrix Man zurück! Mit dabei waren zudem zwei Demokratische Beobachter aus der Afrikanischen Union und Lome.

Was in den nächsten 24 Stunden folgte, war die Ankunft von über 1000 Soldatinnen und Soldaten mit dem Schmetterling auf der Uniform.

Als Régicide und Negative zusammen mit Finnja Skorgen am 8. Dezember in Nakatombe eintrafen, war die Siedlung zu einem Militärlager geworden. Hier lag nun der Brückenkopf der Task Force Landfall sowie das Hauptquartier der SFG 77. Das Command Element der Task Force war in doppelter Kompaniestärke aufgestellt. Das Ground Combat Element war mit fast 500 Personen im Einsatz und hatte den Ort bereits großräumig abgesperrt, Zufahrtswege besetzt. Alle kämpfenden Einheiten waren Luftlandetruppen, darunter eine Schwere Luftlandekompanie aus Trollen sowie zehn Spider Tanks für den Höhenabwurf – mobile Gefechtsstationen für den Abwurf über Kampfgebiete. Die Lufteinheiten der Task Force blieben aus Sicherheitsgründen zum größten Teil auf den Verbandsschiffen im Golf oder in der Luft, aber einige Flugzeuge des 10th Ground Support Wing waren für Alarmstarts in Nakatombe am Boden. Darunter schwere Erdkampfbomber und VTOL-Jets für den Luftkampf und zur Aufklärung. Die 10th Marine Logistics Group hatte die Vorarbeiten von Zoé übernommen und war dabei Nakatombe weiter ausubauen, Wald zu roden, Landepisten auszudehnen, Befestigung und Tarnung herzustellen.

Operation Good Neighbour war bereits im vollen Gange und wartete nun auf ihren Abschluss.

Außerdem waren dem aufmerksamen Auge von Zoé in dem Gewusel zwei Dinge nicht entgangen: AIM hatte eine zweite Sondereinheit herangeführt, die SFG 43. Zudem gab es im Headquarters HQ einen zivilen Berater den Zoé schon einmal gesehen hatte: Ako Tameo, Customer Agent der Yutani Corporation.