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Golden Gap Debriefing

An die Einsatzgruppe

Sehr geehrte Herren,
Sehr geehrte Frau Miller,

lassen Sie mich zuallererst meine Bestürzung über die erlittenen und erheblichen Verletzungen sowie den heftigen Ausgang von Operation Golden Gap zum Ausdruck bringen. Auch SPC Lance, die Ihre Evakuierung aus Yunnan wesentlich koordinierte, wünscht Ihnen rasche und vollständige Genesung.

Erst vor wenigen Stunden haben wir Ihre Berichte und Materialien erhalten. Auch wenn Sie sich zurzeit noch in Yangon City, Avar, befinden, möchte ich Sie dennoch über erste Ergebnisse und auch weitere Schritte informieren.

Zu ihrer Lage: Corporal Svenson wird noch heute mit einem AIM Flug von Yangon über Java nach Tokio gebracht, wo seine schweren Verletzungen behandelt werden. Sein Zustand ist nach wie vor lebensbedrohlich. Mrs. Miller und Mr. Morellè werden nach Rücksprache mit Behörden in Avar vor Ort, in Yangon, behandelt. Ein Sicherheitsteam wird den Krankenhausaufenthalt begleiten und für Ihre persönliche Sicherheit sorgen. Corporal Milestone wird übermorgen zum Dienst auf die AIMS Cassiopeia zurückbeordert.

Zu den Ergebnissen der Datenauswertung: Ausgehend von Ihren rudimentären Bild- und Tonaufzeichnungen, den Aufzeichnungen des Operative 84 sowie den sichergestellten Datenträgern aus zwei Büros des örtlichen Leitungspersonals fügt sich ein begrenztes Bild zusammen. Den aktuellen Stand will ich Ihnen mitteilen. Alles weitere wird wahrscheinlich Verschlusssache werden.

Die Anlage scheint tatsächlich eine Einrichtung des Cantonesischen Ministeriums für Staatssicherheit, Büro 8, zu sein. Die Bunkeranlage selbst wurde möglicherweise schon in den 2020er Jahren errichtet, aber nie für ihren ursprünglichen Zweck genutzt. Der Grundriss der „ARena“ sowie die von ihnen sichergestellte Liste von „Layers“ gab uns einen sehr wichtigen Hinweis. Die Anlage scheint ein Horchposten beziehungsweise eine Überwachung bestimmter Matrix-Hosts zu sein, die mit mehreren illegalen Gruppierungen und dem sogenannten „Shadowland“, eine Art illegales Matrix-Netzwerk, in Zusammenhang steht. Wir haben leider nicht genug Informationen um es voll zu verstehen. Es scheint so, als werden von der Anlage aus die Matrix-Hosts in der Layer-Liste überwacht. Und nicht nur das. Die „ARena“ arbeitet scheinbar mit Augmented Reality. Das bedeutet, der Grundriss wird dazu genutzt aktiv in den beobachteten Hosts einzugreifen und zu interagieren.

Die von Ihnen gesicherten Daten aus den Büros legen nahe, dass in der Anlage auch mehrere Gefangene untergebracht sind, die man mit verschiedenen Methoden dazu zwingt im Sinne der COC in den überwachten Hosts einzugreifen. Der Grundriss der Anlage und die Befragung eines Gefangenen durch Mrs. Miller geben außerdem Hinweise, dass hierbei massiv SimSense zum Einsatz kommt, um Szenen aus den überwachten Hosts aufzuzeichnen und Gefangene vor Ort gezielt zu manipulieren. Leider fehlt uns sowohl eine Gefangenenliste als auch ein Überblick über die SimSense Datenbank, die dort gepflegt wird. Insgesamt dient die Anlage also vorrangig der digitalen Spionagetätigkeit bei gleichzeitigem Verhör und erzwungenem Einsatz von gefangenen „Agenten“ vor Ort.

Atra
Ma Fan Tau

Die Frau mit dem Namen Atra scheint ebenfalls eine Gefangene gewesen zu sein. Allerdings eine sehr spezielle. Sowohl der Bericht von Mr. Morellè als auch ein von CPL Milestone sichergestelltes Datentableu bezeugen, dass diese „Kreatur“ durch einen Pakt an den Stationsleiter Ma Fan Tau gebunden wurde. Bei ihr handelt es sich der Dienstanweisung an den Stationsleiter zufolge um eine gefangene „Sila“. Eine Kreatur, deren übernatürliche Fähigkeit darin liegt, Menschen in Pakte zu binden. Diese Fähigkeit hat sie in den chinesischen Triaden zum Einsatz gebracht, indem sie hochrangige Triadenbosse an sich band und steuerte. Nun wurde sie kürzlich vom Ministerium für Staatssicherheit gefangen und arkan geknechtet. Der Bunker im Dali-Phänomen war scheinbar das optimale Gefängnis, um sie vor einer Flucht oder Kontaktaufnahme abzuschirmen. Von dort aus zwang man sie über die „ARena“ ihren Einfluss auf die Triadenbosse im Sinne der COC weiter auszuüben.

Die Dienstanweisung an den Stationsleiter enthielt neben Erkenntniszielen für den geheimdienstlichen Einsatz dieser Atra auch Codenamen um sie zu zwingen und zu binden. Diese sind nach dem Tod des Stationsleiters leider ungültig geworden. Auch gab es eine Beurteilung ihrer arkanen Natur. Eine Sila geht wohl als mythologisches Wesen zurück auf die Zeit des antiken Assur. Man rechnet sie zu den Efreet. Es sollen Kreaturen sein, die aus rauchlosem Feuer geschaffen wurden und durch deren Hilfe die Könige Assurs ihre Schreckensherrschaft über die Menschen durchsetzten. Dazu nutzten die Sila ihre Fähigkeit, Pakte zu schließen, denen die „Sterblichen“ nicht mehr entkommen konnten. Diese „Atra“ wurde aber erst vor kurzem erschaffen. Als Erschaffungsjahr wird 2060 vermerkt, als Beschwörer ein Magier oder Schamane mit dem Namen „Le Roi“. Inwiefern diese Atra, dieser Magier, die Triaden und das Büro 8 genau zusammen hängen blieb leider unter dem Felsmassiv zurück. Da diese Atra jedoch von der COC gezwungen wurde, nach deren Pfeife zu tanzen, wird ihre Befreiung aus der Gefangenschaft derzeit als positiv aufgefasst. Sie verfolgt nun wahrscheinlich wieder ihre eigene Agenda – oder die ihres Erschaffers.

Wir vermissen also wesentliche Puzzlestücke. Insbesondere die Liste der Gefangenen und eventuelle Metadaten über die SimSense-Datenbank. Unfraglich sind die geborgenen Erkenntnisse jedoch ein herber Schlag gegen Büro 8 und die COC. Man wird eine Cyber-Offensive vorbereiten um die Matrix-Hosts aus der Layer-Liste aufzuspüren und zu infiltrieren. Die ARena kann nach diesem harten Anschlag in bisheriger Form sicherlich nicht mehr weiter betrieben werden.

Weitere Folgen: Der Intelligence Branch wurde bekannt gemacht, dass ihre SIN für die COC und deren alliierten Staaten auf eine „stille Bann-Liste“ gesetzt wurden. Wir gehen davon aus, dass die Bild- und Tonaufzeichnungen vom Einsatzteam erfolgreich nach außen übermittelt werden konnten und in Folge eine rasche Identifizierung möglich war. Von einer Einreise in die COC sowie deren Bündnispartner ist daher stark abzuraten. Für CPL Milestone und CPL Svenson bedeutet dies ein formales Reiseverbot von Seiten der AIM.

Herzliche Grüße,

CPT Katsuo Uzun

Das Kiru-Protokoll

Central Command
AIMS Cassiopeia, 23. Februar 2072.
Protokoll Anhörung CPT Katsuo Uzun.
Vernehmung zum Verdacht auf Vertragsbruch und Verletzung der Führungspflicht im Rahmen der Operation Blue Shark.
Vertraulich.

Major: Kommen wir zum wesentlichen Punkt der Anhörung. Captain Uzun. Wahrscheinlich werden Sie ohnehin die Absicht verfolgen uns so schnell wie möglich den Erfolg des Einsatzes vorzuhalten, also können wir das genausogut direkt hinter uns bringen. Beurteilen Sie also bitte die Missionserfüllung von Operation Blue Shark aus Ihrer Perspektive.

CPT Uzun: Sicher, Sir. Die Einsatzgruppe hatte drei Ziele zu erfüllen. Die Erkundung der Kailinie für ein Landemanöver. Dieses Primärziel wurde erreicht, nachdem eine Abstimmung mit dem Sicherheitsdienst erfolgt und die Kooperation der Anlagenaufsicht sicher war. Brände, Schäden und die Präsenz möglicher Feindkräfte wurde durch die Einsatzgruppe gemeldet und drei Landungspunkte als Prioritäten festgelegt. Die spätere Landung erfolgte auf Grundlage dieser Aufklärungsdaten.

Major: Ja. Weiter.

CPT Uzun: Die Einrichtung einer Meldestelle erfolgte vorbildlich. Die verschlüsselte Verbindung zum Sicherheitsdienst der Kappa YC wurde 90 Minuten nach Landgang der Einsatzgruppe hergestellt und bildete die Grundlage für die spätere koordinierte Evakuierung. – Das dritte Einsatzziel war die Klärung der Bedrohungslage vor Ort und die Unterstützung der Kameraden von der Security Branch, namentlich Chief of Security Oresson.

Lieutenant Colonel: Bleiben wir mal beim dritten Punkt und kommen zum Wesentlichen. Der Ausgang der Nacht ist ja letztlich erfreulich, angesichts geringer Verlustzahlen und der schnellen Präsenz auf Kappa YC. Das ist hier auch gar kein Thema. Ihnen wird durch die Geschäftsleitung der Yutani Corporation und dem Central Command vorgeworfen, wesentliche Vertragsvereinbarungen zwischen AIM und YC nicht in der Einsatzplanung berücksichtigt zu haben und im Zuge dessen auch der Pflicht der Führungsaufsicht nicht nachgekommen zu sein.

CPT Uzun: Sir…

Lieutenant Colonel: Die strikte Trennung zwischen Sicherheitswesen – repräsentiert durch die AIM Sektion auf der Gasanlage – und der produktiven Anlage war ein Kernelement der Vertragsvereinbarung. Es gibt ganz klare, schriftliche Verpflichtungen über eine Trennung beider Bereiche.

CPT Uzun: Die Vereinbarung erwähnte nicht, dass…

Lieutenant Colonel: Ich bin noch nicht fertig. – Durch die Entkopplung der Anlagensoftware Kiru aus ihrem Habitat haben sie maßgeblich diese Vereinbarung verletzt. Chief Oresson hat zu Protokoll gegeben, dass er über diesen Schritt nicht informiert war und das auch nicht gut geheißen hätte. Nehmen Sie dazu Stellung, Captain.

CPT Uzun: Zuerst möchte ich klarstellen, dass die Präsenz der Person Kiru sowohl Central Command als auch direkt der Einsatzleitung nicht angemessen bekannt gemacht wurde. Der Yutani Customer Agent konnte oder wollte diesen Aspekt der Anlagenarchitektur nicht preisgeben. Insofern konnte es nicht in die Einsatzplanung einbezogen werden.

Major: Ist es korrekt, dass die Teammitglieder, die Sie ausgewählt haben, die Anlagenintelligenz eigenmächtig vom Habitat getrennt haben?

CPT Uzun: Ja.

Major: Würden Sie das als eine Verletzung Ihrer Führungsaufsichtspflicht ansehen?

CPT Uzun: Nein.

Major: Sie sind also der Ansicht, dass sie jederzeit die Befehlskette aufrecht erhalten hatten und über alle Schritte informiert waren?

CPT Uzun: Nein…

Lieutenant Colonel: Dem Briefingprotokoll entnehme ich, dass sie die operative Teamleitung im Feld einem Specialist Milestone übertragen haben. Der Rang des Specialist ist kein Unteroffiziersrang, insofern können Sie hier nicht für sich reklamieren, eine angemessene Befehlskette etabliert zu haben…

CPT Uzun: Sir, die Sondereinsatzgruppe baut auf taktischen Erwägungen, die zivile und militärische Aspekte von Krisenfällen integriert. Der Specialist hatte zwei Empfehlungen zur Beförderung zum Corporal durch direkte Vorgesetzte sowie eine Bewährung im Sondereinsatz vor Norwegen. Als einer der besten Kampfschwimmer der zehnten AEF war die Entscheidung für ihn eine Sachentscheidung. Im Falle besonderer Kompetenz ist Führungsverantwortung zu begrenzten Zwecken auch Rängen ohne Führungsauftrag zu übertragen.

Major: Und die Gnomin aus der Touristikbranche, die einen Sachschaden von einer halben Millionen Nuyen verursacht hat? Ist das auch eine Kompetenzentscheidung?

CPT Uzun: Ich stehe voll und ganz zu unserer Unternehmensphilosophie, externe Kompetenzen in hybriden Krisenszenarien voll auszuschöpfen. Als Fahrzeugspezialistin und vielsprachige Übersetzerin war sie genau die Richtige. Der verlustfreie Einsatzerfolg spricht hier für meine Auswahl des Teams. An der Einbeziehung des Sprengstoffexperten Negative und des kampferfahrenen Sanitäters können Sie ablesen, dass mir der Kern des Bedrohungszenarios durchaus bewusst war.

Major: Zurück zum Thema. Ihr Kompetenzteam hat die Anlagenintelligenz eigenmächtig vom Habitat getrennt.

CPT Uzun: Wie sie dem Protokoll entnehmen können hatte der Specialist – der im Übrigen bereits zum Corporal befördert wurde – keine Chance die Trennung der Kiru vom Habitat zu verhindern. Da die freien Kontraktnehmer eigenmächtig handelten, wurden sie mit Vertragsbruch sanktioniert. Ihnen wurden Ersatzansprüche und die Honorarzahlungen gestrichen.

Major: Das ist mir zu einfach. Sie haben ihre Einsatzrichtlinien nicht durchsetzen können!

CPT Uzun: Major, bei allem Respekt: die Komplexität des Szenarios erlaubt es nicht, nach traditionellen Mustern zu handeln. Sie brauchen flexible Spezialisten mit Spielraum für Selbstverantwortung, um in solchen dynamischen Szenarien reagieren zu können. Wenn Sie den Einsatzverlauf rekonstruieren werden sie sehen, dass Innovation und unkonventionelles Handeln maßgeblich zum Erfolg beigetragen haben. Das sehen sie beispielsweise an der Auswertung der Personaldatenbank oder die Betäubung und Gefangennahme der kantonesischen Angreifer. Und ebenso darf ich darauf hinweisen, dass diese Kiru im Habitat ihre Entkopplung selbst als Wunsch geäußert hat und damit möglicherweise eine Willenserklärung im juristischen Sinne abgab. Diesem Wunsch kam Teammitglied Negative dann nach und zog den Stecker, ohne dass der Specialist hier eingreifen konnte.

Major: Sie winden sich heraus mit Spitzfindigkeiten. Wir haben den Operative 84 auswerten lassen. Er bestätigt Teile der Aussagen und straft andere Lügen. Insbesondere alles was im Habitat geschah ist ziemlich unklar. Es besteht Manipulationsverdacht.

CPT Uzun: Operative 84 wurde durch Kiru manipuliert, das hat sie selbst eingeräumt. Die Softwarestruktur ist beeinträchigt. Die Cybertechniker sagen, Operative 84 hätte parallele Realitäten über die Ereignisse generiert. Der Arbeitsspeicher war mit 99,8% völlig überlastet. Es scheint, als hätte der Operative nicht nur aufgezeichnet was geschehen ist, sondern auch was hätte sein können. Kiru hat die Prozessstruktur des Operative 84 damit völlig demontiert. Er ist für keine Datenauswertung zu gebrauchen.

Major: Was ihnen zufällig sehr gelegen kommt.

CPT Uzun: Sir, diese Anhörung ist eine Farce. Erstens, die Präsenz von Kiru als mögliche Person mit weitreichenden Administratorrechten für die gesamte Anlage war der Einsatzleitung nicht bekannt gemacht worden. Zweitens, die Richtlinien für hybride Kriegsführung und die Arbeit zwischen zivilen und militärischen Szenarien decken meine Teamzusammenstellung und Vorgehensweise. Sie ist effizient und stimmt mit den Werten und Zielen von AIM überein, unkonventionelle Szenarien unkonventionell zu lösen wenn es Gewalt vermindert. Und drittens, haben die drei freien Kontraktnehmer eingeräumt einen Vertragsbruch einseitig verschuldet zu haben. Hieraus wurden bereits vertragsrechtliche Konsequenzen gezogen. Ich erachte das als einen Beweis für deren absloute Professionalität im Umgang mit Erfolgen und Fehlern. Wir verdanken den Dreien vor Ort letztlich auch die Oberhand auf der Anlage und das Überleben aller Gefangenen.

YC Customer Agent: Mir kommt da noch eine Frage, wenn ich darf, Colonel? – Denken Sie, es bestand persönlicher Austausch zwischen Kiru und Ihrem Einsatzteam, Captain Uzun?

CPT Uzun: Nein, ich denke, das kann man aufgrund der Umstände ausschließen. Die Situation war hektisch, stressig und die KI scheinbar sehr orientierungslos. Sie schaltete das Licht an und aus, war aber weiter nicht zu gebrauchen.

YC Customer Agent: [nickt]

Lieutenant Colonel: Das war ihr achter Sondereinsatz in weniger als zwei Jahren, Captain. Ihnen ist schon klar, dass sie mit ihrer Auffassung von militärischer Führung und dem Zirkus, mit dem Sie in das Gefecht gehen, früher oder später vor einem Gericht landen, nicht nur in einer Anhörung?

CPT Uzun: Vielleicht ändert sich ja auch die gängige Auffassung, bevor das passiert, Sir.

Lieutenant Colonel: Ist das ein persönlicher Angriff, Captain?