Mike hatte wieder einen dieser Momente, in denen er irgendwie neben sich stand und die Dinge einfach zu schnell passierten. Gedanklich war er noch nicht in der Gegenwart angekommen. Er schaute auf die zwölf uniformierten Portraits an der übergroßen Trideowand. Einige sprachen über wichtige Dinge, das teilte Mike eine innere Stimme mit. Und sie sprachen zum Glück nicht zu ihm, sondern zu Captain Uzun, der hier im Übertragungsraum den zwölf Offizieren Rede und Antwort stand. Mike und Specialist Lance saßen am Katzentisch, zwei Meter entfernt, bereit aufzuspringen, zu nicken oder Daten anzureichen, wenn man sie aufforderte.
Mike wunderte sich. Sprach man nicht über eine Rettungsmission? Recovery SFG 77? Aber irgendwie hatte sich das Thema plötzlich gewandelt. Er schielte nach rechts, zu Lance. Ihre Augen waren konzentriert auf Uzun und sie nickte. Scheiße. Sie war am Ball. Mike rieb sich mit der Hand das Gesicht und kniff die Augen zusammen. Was war hier gerade los?
Uzun: „Ich habe die Mahnung des Central Command verstanden und ich versichere ihnen, dass es niemanden gibt, der sich den überlangen, unklaren Operationsstatus der SFG 77 mehr zu Herzen nimmt als ich. Ausschlaggebend ist aber an dieser Stelle, dass es dem Team gelang, hochbrisante, politische sowie militärische Informationen im verdeckten Einsatz zu beschaffen. Von Anfang an war die Möglichkeit gesehen worden, unkonventionell und abgeschieden von der Operationsleitung zu operieren. Die spezielle Natur dieser Anforderung spiegelt sich in meiner Einsatzdoktrin wieder. Und die Früchte ernten wir gerade in diesem Moment.“
Mike überlegte: Waren Einsätze ohne Anbindung zur Operationsleitung von Anfang an vorgesehen gewesen? Es hieß immer „unkonventionell“, aber was genau bedeutete das eigentlich?
Uzun: „Es ist sehr glücklich, dass die SFG 77 vor einigen Stunden unverzüglich eine Geheimhaltungseinstufung für Daten und Zeugen mit Priorität verlangt hat und Lieutenant Ortell sofort zur Kooperation bereit war. So konnte die Reaktivierung der Einheit umgehend beantragt werden und wir können die neuen Erkenntnisse sofort operativ nutzen.“
Mike nickte roboterhaft auf einen Seitenwink des Captains hin. Ihm fiel auf, dass Captain Uzun gar nicht erwähnte, dass man Lieutenant Ortell umgangen hatte. Uzun hatte bildlich gesprochen mit einer eilig erwirkten Geheimhaltungsstufe vor dem Gesicht des Lieutenant herumgewedelt und er musste seine Leitung über die Rettungsmission aufgeben. Mike hatte die Logdaten dafür frisiert, so dass Lieutenant Ortell als Schwachkopf dastand, der seine Mailbox nicht richtig bedienen konnte. Aber andererseits, dachte sich Mike, war das vielleicht auch gut so. So wie die SFG 77 im HQ Moskuwa aufgeschlagen war, hatte sie sich direkt und unverzüglich an Uzun wenden können. Das hätte auch anders laufen können. Lieutenant Ortell gehörte zu denen im Stab, die Uzun auf den Tod nicht leiden konnten – also etwa zur einen Hälfte der Offiziere an der Trideowand. So wie es in Moskuwa abgelaufen war, hatte man Ortell schlichtweg direkt umgangen. Das dürfte einigen gar nicht gepasst haben. Aber so wie es gelaufen war, war es wohl auch gut. Die SFG 77 hatte schon genug Probleme. Auf firmeninterne Politik konnte man gut verzichten.
Uzun fuhr fort: „Aus dem, was ich bisher an Daten sichten konnte, habe ich einen eiligen Reaktionsplan erarbeitet. Sie erhalten die Datei soeben digital. Es handel sich um die Komposition einer Task Force Landfall. Aufgrund großflächiger, exterritorialer Gebiete mit prekärer Sicherheits- und Gesundheitslage im Zentrum des Nordostens von Dahomey sehe ich eine massive Luftpräsenz als primäre Notwendigkeit für den Auftakt einer Bodenmission für AIM. Wie sie sehen, gehe ich von einem kleinen Brückenkopf aus, der im Wesentlichen vom Golf von Guinea aus geschlagen wird.“
Mike leitete die Dateien an die Offiziere weiter. Interessant war der Begriff „eiliger Reaktionsplan“. Mike hatte bereits seit Wochen unter der Hand für Uzun an einer Szenariosimulation für diese Task Force Landfall gearbeitet. Jetzt zog er sie einfach aus der Tasche. Die Offiziere nickten beeindruckt, manche hoben die Brauen. Eine Mittfünfzigerin mit Sternen am Kragen blickte über die Brille zu Uzun:
GEN: „Ich bewundere ihren krankhaften Ehrgeiz. Sie schlagen einen Brückenkopf gut 700km von der Küste entfernt vor?“
Uzun: „Richtig. Unseren vorläufigen Aufklärungsinformationen zufolge liegt im Bereich um den Tawani-See der Kern aller relevanten Ereignisse. Dort treffen die Akteure aufeinander, da ist Potential, um in die Neuordnung einzugreifen.“
GEN: „Eine Neuordnung welcher Art? Soweit ich informiert bin, sind die Ergebnisse der Feldaufklärung durch die SFG 77 weder mit unserem Nachrichtendienst noch der politischen Abteilung abgestimmt. Was genau wollen Sie da neu ordnen, Captain?“
Uzun: „Danke, General Falcon, dass Sie auf diesen zentralen Punkt hinweisen. Seit Anfang Oktober steht die Geschäftsleitung unter enormen Druck, einen Vertrag gegenüber einem Land erfüllen zu müssen, ohne dabei fundierte Informationen aus erster Hand über die genauen Hintergründe der aktuellen Krise zu besitzen. Ich denke, wir erinnern uns alle daran, wie die Bloßstellung unserer CEO auch zu uns durchregnete. Die aktuellen Informationen aus Hand der SFG 77 zeigen die Vielschichtigkeit der Krise auf und identifizieren nun ganz klar terroristische Gruppen als Mitverursacher. Wenn wir hier gezielt eingreifen, das sehen sie sicherlich aus den vorläufigen Daten, können wir uns selbstbewusst und mit klarer Strategie als Akteure auf dem Festland ins Spiel bringen. Dann kommen wir endlich aus der rufschädigenden Zwickmühle raus. Und ich möchte betonen, dass wir für eine Task Force Landfall gegenwärtig nicht einmal ein Mandat von Dahomey selbst bräuchten.“
GEN: „Das zu entscheiden, übersteigt ihren Horizont, will ich meinen.“
Uzun: „Sie haben recht General. Ich bitte sie daher, dass mein Team unverzüglich damit beginnen kann, einen Brückenkopf im Krisengebiet vorzubereiten. Ich schlage die Formierung der Task Force Landfall als Vorbereitung einer Landstrategie vor. Sobald CCOM und das Policy Board dann ihre Gesamtstrategie mit den neuen Aufklärungsdaten ergänzt haben, können wir uns vor Ort ins Spiel bringen und dort intervenieren, wo es mit der Firmenpolitik im Einklang steht. Denn eines ist klar: Seit Wochen blockiert uns die fehlende Landstrategie und diese blinde Vertragserfüllung im Rahmen der Seeblockade kostet uns täglich Aktienwert und Reputation. So kann es doch nicht weitergehen.“
Mike stimmte dem Captain zu. Es war nicht schön für ein Land, den Warenstrom militärisch durchzusetzen, während man nicht wusste, ob der Kunde im Inland seine eigene Bevölkerung absichtsvoll verhungern lässt. Und mit dem Reputations-Argument hatte Uzun nun auch die Trumpfkarte gespielt. Die zwölf Offiziere des CCOM blätterten durch die digitalen Berichtsseiten, einige murrten, manche rieben sich die Augen, andere nickten. Dann schauten elf der zwölf zu General Falcon. Für kurze Zeit wurde der Audiokanal blockiert und der Stab besprach sich intern. Als der Kanal wieder offen war, sagte General Falcon:
GEN: „Konsolidieren Sie ihre Einheit vor Ort und warten Sie ab, bis das Policy Board gemeinsam mit dem CCOM eine Strategieentscheidung getroffen hat. Wir werden ihrem Vorschlag folgen und Task Force Landfall in Dienst stellen, vorerst jedoch auf das Kommando- und Luftwaffenelement begrenzt. Colonel Kalika wird das Kommando über die Task Force übernehmen. Sie, Captain, übernehmen die Koordination der Spezialeinsätze. Der Großteil der von ihnen vorgeschlagenen Lufteinheiten muss von Task Force Guinea abgezweigt werden. Koordinieren sie das, damit es kein Chaos gibt. Wir haben nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung. Es ist ihnen vorerst untersagt, Bodentruppen abzusetzen oder Luftraum zu durchqueren, der von Mercenary Incorporated oder Nigeria militärisch kontrolliert wird.“
Uzun nickte bestimmt.
GEN: „Und, Captain, ohne einen Partner vor Ort wird sich dieser Plan, den sie angeregt haben, nicht verwirklichen lassen. Die Übergangsregierung in Lome blockiert jeglichen Vorstoß unsererseits, im Norden des Landes einzugreifen. Selbst wenn wir mit völkerrechtlichem Mandat einseitig in das Szenario eingreifen, haben wir damit zwar eine Menge zu tun, aber keinen Kunden, nach dem die Geschäftsführung verlangt. AIM MATTERS hatte die Aufgabe, einen Partner zu gewinnen, der uns ins Land holt und Dahomey davon überzeugt, dass wir zumindest in einem begrenzten Umfang Partner am Boden sein sollen.“
Uzun presste die Lippen etwas aufeinander und nickte erneut, diesmal etwas weniger bestimmt.
GEN: „Sehen sie also zu, dass alle Informationen, Beweise und Zeugen so schnell wie möglich in unsere sicheren Hände gelangen und potentielle Partner vor Ort identifiziert werden. Miss Clark hat sich ja eigenwillig ins Land geflüchtet und ist immer noch in Moskuwa. Sie hat Instruktionen, wie mit solchen Partnern umzugehen ist. Binden sie sie ein. Wenn sie sich dort schon an ihrem Strohhalm festklammert, kann sie sich auch nützlich machen. Das ist alles. Sie können wegtreten, Captain.“
Ein kurzer Austausch von Saluts und die Verbindung war getrennt. Mike schaute zu Lance und flüsterte:
„Geht’s jetzt los?“
Die Specialist hob nur eine Augenbraue und machte sich mit Unterlagen unterm Arm auf den Weg um Uzun zu folgen. Mike blieb etwas ratlos zurück, nachdem er den virtuellen Besprechungsraum geschlossen und abgewickelt hatte. Was bedeutete das jetzt für ihn eigentlich? Er beschloss, ersteinmal direkt zum Host-Terminal zurückzukehren, Zoé oder jemand anderen ans Terminal zu bekommen und den neuesten Tratsch ins Feld zu bringen!