Löwe

Dahomeys zweites Erwachen

Der Ausklang dieses Jahres wird auch für das westafrikanische Dahomey ein Neubeginn sondergleichen sein, oder was davon übrig geblieben ist.

Wir erinnern uns: am 20. September 2073 wurde der Bura-Staudamm durch Terroristen besetzt, die mittlerweile der terroristischen Vereinigung der „Agooji“ zugerechnet werden. Es war der erste, aggressive Auftritt dieser Gruppe die, wie wir heute wissen, sich seit vielen Jahren in die politische und ökonomische Elite der Region eingeschlichen und ihren staatszersetzenden Einfluss ausgeübt hat.

Wer sind die Agooji? Nach allem was die vergangenen Monate enthüllt haben, handelt es sich um westafrikanische Splittergruppen, die sich hinter einer wiederbelebten Idee des Königreichs Agooji aus dem 19. Jahrhundert zusammengeschlossen haben. Als Stammsitz scheint der erwachte Dschungel im Nordwesten Dahomeys zu dienen. Ein unzugängliches Gebiet und seit dem Erwachen 2011 ein weißer Fleck auf den Landkarten, undurchdringlich für die modernen Satelliten und Aufklärungsdrohnen. Auch dem arkanen Auge fest verschlossen. Die wenigen, organisierten Erkundungen der frühen Zwanziger ließen es als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen, im erwachten Dschungel von Dahomey irgendetwas von Dauer zu errichten. Die Wege hinein glichen eher einem Abstieg in die Vorzeit. Wer würde dort ein Königreich errichten können? Und dann noch eines, das aus dem Dschungel politische Intrigen und modernste Technik in die zivilisierte Welt führt?

Doch man läge falsch, wollte man all das, was kommen sollte, allein dieser Terrorgruppe zuschreiben. Königreich oder nicht. Eine Woche nach der Besetzung des Bura-Staudamms brach in ganz Dahomey, aber besonders im Norden und in der Hauptstadt, ethnische Gewalt ungekannter Ausmaße aus, zumindest nach Dahomeys Maßstab. Die Siedlung Ihuma gilt mittlerweile als Ground Zero und Stunde Null. Alles habe mit einer eher beiläufigen Verhaftung eines Fon begonnen, der im Gewahrsam der Ordnungskräfte die Schwarze Idola Afkarasar manifestierte. Von dort zog sich ein Teppich aus Feuer und Blut bis in die Graue Zone. Es kam zu Vertreibungen, Greueltaten gegen Nachbarn und am Ende mobilisierten Dahomey und Nigeria ihre Sicherheitsdienstleister und Armeen, die Kanonen und Drohnen starr aufeinander gerichtet.

Heute muss es uns klar erscheinen, wie naiv wir waren. Immer wieder übersehen wir die Anzeichen. Das Wirken der Idola – bis dahin eher ein Bestandteil der esoterischen und säkularisierten Privatreligion Dahomeys, lag Ende September bereits offen zutage. Man hätte nur den wenigen Stimmen glauben schenken müssen, die darauf hinwiesen.

Am 29. September 2073 berichtete dann sogar Channel 9 das erste Mal über Unruhen bei anstehenden Lokalwahlen im Norden Dahomeys und gab am 6. Oktober Raum für Schwerpunktberichterstattung. Es wurde außerdem bekannt, dass Dahomeys Regierung die schwelenden und eskalierenden Konflikte schon eine ganze Weile durch massive Matrixzensur zu verbergen suchte. Heute hören wir von den Verantwortlichen, sie hätten dazu die Pflicht gehabt, um die schädliche Wirkung der Schwarzen Idola einzudämmen, für welche die Matrix, die allzeitige Erreichbarkeit und ungehinderte Ausbreitung von Angst und Misinformation ein Quell ständigen Machtzuwachs gewesen sei. Die Corporate Court Matrix Authority handelte natürlich nach anderen Grundsätzen. Am 2. Oktober erfolgte die Androhung von Sanktionen aufgrund der aktiven Censor Hosts. Eine partielle Matrixsperre folgte dann zehn Tage später.

Ungefähr zeitgleich unternahm auch die Afrikanische Union erste Bemühungen für eine einseitige Sanktion und verhängte eine Seeblockade gegen Dahomey. Dies brachte den Militärdienstleister Association International des Mercenaires (AIM) in eine unangenehme Zwickmühle, da sich die Verteidigungsklausel aktivierte. Doch nun stand das besungene und gefeierte Dahomey als beginnender Schurkenstaat da. In einem Interview der CEO Jacqueline Walters am 9. Oktober konnte man die unangenehme Spannung heraushören. AIM entschied sich zur Vertragserfüllung. Ein Blockadekrieg im Golf von Guinea begann.

Zeitgleich startete Nigeria eine Offensive in die Graue Zone, um in die Wahlkampflage einzugreifen. Mercenary Inc., der Dienstleister für Dahomeys Landstreitkräfte, vermied eine harte Antwort und zog sich darauf zurück, Verkehrswege und Infrastruktur in den Ballungszentren zu schützen. Die Anarchie des Nordens begann.

Der Zusammenbruch des republikanischen Staates Dahomey folgte kurz darauf. Am 14. Oktober wurde der Bura-Staudamm durch die Agooji gesprengt und am 16. Oktober kam es zu einem Putschversuch in Lome. Doch entgegen den ersten Vermutungen, handelte es sich um einen Putsch der Guten gegen die Bösen. Die Agooji hatten sich so tief in die politische Elie eingeschlichen und dort ihre subversiven Verlockungen ihrer Schwarzen Idola verbreitet, dass die positiven Kräfte der Regierung und des Parlaments, als sie das Ausmaß erkannten, nur noch eine Aufhebung der staatlichen Ordnung als Lösung sahen. Die Infrastruktur, insbesondere die Kommunikationswege, wurden weitestgehend abgeschaltet. Das Schicksal des Landes wurde an die Menschen vor Ort weitergereicht. Die religiösen Kräfte, bis dahin eher in der Politik abstinent, beschwörten eine Weiße Idola des Ausharrens und Durchhaltens, Massuutu. Dann ging das Licht aus, in Dahomey.

Was genau geschah, verbleibt über weite Strecken im Dunkel. Nur langsam beginnen wir, die Ausmaße zu begreifen. Wer mit welchen Taten welche Folgen verursachte, wird wohl kaum nachzuvollziehen sein. Klar ist, dass sich gegen Ende Oktober im Norden Dahomeys, nahe der Wüstenrandgebiete, eine ethnisch und religiös besonnene Zusammenkunft einfand, von der aus die Impulse eines neuen Dahomey ausgehen sollten. Unter Ablehnung der technisierten Moderne, der weltumspannenden Kommunikation und Ökonomie, berief man sich auf lokales Handeln, auf Weiße Idola und die Kraft von Tier, Land und Mensch. Während südlich der Zusammenkunft die Graue Zone in die Gewaltherrschaft der Warlords fiel, Mercenary Inc. in den befestigten Städten unter Kriegsrecht ein normales Leben zu simulieren versuchte und im Norden, im Orichalkumgürtel, anarchische Ressourcenkämpfe zwischen internationalen Konzernen entbrannten, war die Große Zusammenkunft die vernünftige und einzige Alternative für jeden, der Frieden und Orientierung suchte.

Überraschenderweise mischte sich der im Golf von Guinea schwer unter Druck geratene Militärdienstleister AIM ab Mitte November plötzlich in genau dieser Region ein und füllte ein Machtvakuum in einem weitestgehend entvölkerten und unkontrollierten Gebiet. Von Nakatombe aus etablierte AIM eine humanitäre Unterstützung für die alleingelassenen Opfer der Staudammkatastrophe im Bura-Schwemmland. Doch es blieb freilich nicht bei blauen und weißen Helmen. Eine militärische Luftbrücke zwischen dem Golf und der Region um Nakatombe machte bald deutlich, was die „Task Force Landfall“ von AIM beabsichtigte. Mit militärischer Härte wurden Schläge gegen militärische Anlagen der Agooji im Randgebiet des erwachten Dschungels durchgeführt. Aber es soll auch zu Aktionen in Moskuwa gekommen sein. Als Auftraggeber nannten die Offiziellen von AIM zu diesem Zeitpunkt eine „verfassungsgebende Nachfolgeregierung“ aus der Großen Zusammenkunft, hunderte Kilometer von der Hauptstadt Lome entfernt, abgeschnitten von jeder Matrix-Verbindung und jedem Übertragungswagen.

Während das eigenwillige und riskante Militärmanöver zu Lande von vielen als politischer Selbstmord verlacht wurde, waren es jedoch nicht die politischen Fragen, die im Dezember die dringlichsten waren. Auf der mystischen Ebene, so weiß man nun, wurde der Kampf mindestens eben so hart geführt, wie auf der militärischen. Auf der Großen Zusammenkunft wurden Bündnisse mit und zwischen der Geisterwelt geschmiedet und die Kräfte der Tiertotems näherten sich den sogenannten Weißen Idola an. Ein Zug der Tiere wurde verkündet, er soll eine Steinsetzung monumentaler Ausmaße begleiten, die von der Wüste bis zum Atlantik führen soll. Ein Unterfangen, das Jahre dauern wird, allein von Muskelkraft vorangetrieben. Die wenigen Bilder in den internationalen Nachrichten erinnern an biblische Szenen.

Der Grund und Widersacher für all diese Anstrengungen schien nun klar zu sein: die Terrorgruppe der Agooji hatte die Schwarzen Idola und ihre perfiden, schädlichen Kräfte geschürt und für ihre zersetzenden Zwecke eingespannt. Der Kampf konnte und musste also auf mystischer Ebene mindestens so erfolgreich ausfallen, wie auf politischer und militärischer.

Es bleibt unbestätigt doch wird es allgemein akzeptiert, dass AIM und Mercenary Inc. zuerst in einen militärischen Konflikt miteinander gerieten, als man einen religiösen Pilgerort, das sogenannte Sandorakel, befreite und den lokalen Volksgruppen übergab. Dem folgte ein mittlerweile gut dokumentierter Gegenschlag gegen ein sogenanntes „Grenztor“ der Agooji in den erwachten Dschungel. Eine Art ritueller Übergang in ihr „Königreich“. Die Forschungen und militärischen Erkundungen dauern an.

Den Höhepunkt jedoch, sahen wir alle vor unseren Trideoschirmen am Abend des 27. Dezember 2073. Nichts geringeres als eine Inkarnation des Löwentotems selbst, manifestierte sich im Schwemmland des Bura-Staudamms und betrat festen Grund auf afrikanischer Erde. Ein Ereignis, das innerhalb von Stunden ausgedehnte Regionen und Landstriche einer Umwälzung unterzog, die man vielleicht kataklysmisch nennen würde, hätte sie nicht genau das Gegenteil bewirkt. Wo Löwe in Avatargestalt seine Tatzen auf die Erde setzte, wich das verunreinigte Flutwasser zurück. Straßen, Gebäude, Industrieanlagen und Fahrzeuge verschwanden in der schwarzen Erde Afrikas. Steppengras und Bäume sprossen aus der entfesselten Urgewalt und zurück blieb nichts als geheilter Grund.

Überflutetes Stadtgebiet vor der Umwälzung
Selbes Stadtgebiet nach dem Streifzug von Löwe

Dieser „Streifzug des Löwen“ war die Folge, so hören wir, eines gescheiterten Versuchs der Agooji, die Ikone des Schwarzen Kontinents in eine toxische Entartung zu locken oder zu vernichten. Das Gefängnis wurde jedoch gesprengt und Löwe befreit. Die „Schwarze Hexe“ der Agooji, eine politische und religiöse Führerin namens Enomi, wurde durch Löwe selbst Berichten zufolge vernichtet. Wie dreist das Agieren der Agooji war kann man auch daran ermessen, dass viele von uns die Mode- und Beauty-Line Égalitérnité daheim im Schrank stehen haben. Eine Produktreihe, die sich im Besitz dieser Agooji befand.

Doch auch weltliche Kontrahenten lieferten sich eine erbitterte Schlacht. Mercenary Inc. und AIM lagen über dem umkämpften Gebiet in einem Luft- und Bodenkampf, auch lokale Milizen der vereinten Volksgruppen waren involviert. Auch wenn die genauen Umstände nach wie vor Fragen aufwerfen, am Morgen des 28. Dezember war eines klar: die Geschichte Afrikas hatte vielleicht ihre größte Zäsur erfahren. Viele vergleichen das Ereignis mit dem Großen Geistertanz und es ist bereits absehbar, dass Löwes Erscheinen und Wirken ein Feuer in zahlreichen Staaten südlich der Sahara bedeuten wird. Der Leiter der Afrika-Abteilung von DeBeers Omnitech formulierte es so: „Es wird Jahre oder Jahrzehnte dauern, und ich zwar allein bis man ausgerechnet haben wird, welchen ökonomischen Verlust der 27. Dezember 2073 der Weltwirtschaft wirklich beigebracht hat.“

Was wird nun werden?

Der Verbleib von Löwe ist unbekannt. Einige Stimmen aus eingeweihten Kreisen sagen, er hätte sich an die Spitze des gigantischen Tierzuges gesetzt, der sich immer noch formiert und gen Süden zieht. Andere weisen darauf hin, dass es Anzeichen dafür gibt, dass Löwe Dahomey bereits verlassen hat und andere Länder durchstreifen wird.

In Dahomey ist es nun einmal mehr an den Menschen sich neu zu besinnen und die Dinge in die Hand zu nehmen. Die Große Zusammenkunft wurde zum vorübergehenden Sitz der Übergangsregierung und verfassungsgebenden Versammlung gewählt. Ein Verfassungsentwurf ist bereits veröffentlicht. Die Association Internationale des Mercenaires hat im Bura-Schwemmland eine vorgeschobene Operationsbasis errichtet und ihren Dienst der Übergangsregierung als einstweilige Exekutive angeboten.

AIM Forward Operating Base

Politisch haben sich Vertreter der Hausa, Bariba, Igbo und Fulbe bisher stark profiliert und man versucht Diversität, Toleranz und Demokratie aus dem alten Dahomey in das neue zu retten. Leider ist schon jetzt absehbar, dass die marginalisierten Fon erneut den Kürzeren ziehen könnten. Doch was wird überhaupt anders sein? Sicherlich wird der Ausgleich zwischen Moderne und religiös-mystischer Verbundenheit zum Land neu ausgerichtet werden. Das ist aus dem Verfassungsentwurf ersichtlich. Die sogenannten Idola, so hört man, müssen aus ihren entarteten Formen zurück in eine positive Ausrichtung geholt werden. Und wo dies nicht möglich scheint, soll die Bevölkerung Afrikas lernen, die unheilvollen Wirkkräfte des Miteinander im 21. Jahrhundert besser erkennen und begrenzen zu können. In diesem Zusammenhang hat sich eine einflussreiche „Prinzessin“ aus Nigeria auf dynastische Ansprüche berufen und behauptet, der Wandel der schädlichen Idola Andikan zu einer Idola des gütigen und solidarischen Zusammenlebens habe bereits stattgefunden. Ob dieses neue Experiment zwischen erwachtem Land, monarchischen Prinzessinen, demokratischem Gedankengut, Volksglaube, Idola und einer modernen, technisierten Gesellschaft gelingen kann darf weiter fraglich scheinen.

Und welche Rolle wird Löwe weiter spielen?

African Colors Trideo Broadcast, Moskuwa, 31. Dezember 2073